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Botnanger Fachschule

Buch des Monats

Was gibt es Neues auf dem Buchmarkt? Hier stellen die Dozentinnen Valerie Eisele und Ulla Stauber jeden Monat ein Bilder-, Kinder- oder Jugendbuch vor. Wir wünschen viel Spaß beim Schmökern.

Buch der Monats November
Lucia Zamolo: Jeden Tag Spaghetti

Lucia Zamolo: Jeden Tag Spaghetti – wie es sich anfühlt von hier zu sein, aber irgendwie auch nicht

Wie es sich anfühlt, immer wieder darauf zurückgeworfen zu werden, wohl nicht so richtig, also so richtig, wie es manche für richtig halten, von hier zu sein – diese Erfahrung kann Lucia Zamolo mit vielen Menschen in Deutschland teilen. Sie erzählt davon in vielen kleinen Sequenzen, die sie wundervoll gemalt und geschrieben hat, in einer Gestaltung, die einen am liebsten selbst zum weichen Bleistift greifen lassen würde, um auch etwas zu notieren und in großen Buchstaben auszuschmücken.

Ein Buch voller kluger Gedanken rund um das Thema Migration und Identität. Lucia Zamolo erzählt aus dem eigenen Erleben mit einem italienisch klingenden Namen, was in Begegnungen wohl immer wieder zu der Frage führt: Und woher kommst du? Wie wäre es mit Variante 1: Hierher! Ich hab aber auch mal im Ruhrpott gewohnt. Oder Variante 2: Ach so! Von dahinten! Oder3: Ehmm … vom Klo? Oder 4: Aus dem Kiosk …

Zamolos Antwort: Mein Vater kommt aus Italien. Und damit beginnen ihre Auseinandersetzungen, die sie in diesem Buch so vergnüglich wie ernsthaft führt. Warum sag ich das denn? Das ist doch eine bescheuerte Antwort, denkt sie irgendwann. Und dieses „ah, der Vater ist Italiener“ befeuert Fantasien bei ihren Gesprächspartner_innen. So wird Lucia zum Beispiel von ihrer Lehrerin gefragt, ob sie mal erzählen kann, wie ihr Papa zum Arbeiten nach Deutschland kam. Oder sie lobt die Eltern beim Elternsprechtag, dass Lucia akzentfrei Deutsch spricht.

Ihre aufgeworfenen Fragen führen zu weiteren Geschichten, die andere erlebt haben, was gut ist, um die Anlässe und das Ausmaß rassistischer Äußerungen breiter darzustellen, schließlich – und dessen ist sie sich bewusst – spricht sie als weiße Europäerin. Lucia Zamolo bringt einen zum Nachdenken über Alltagsrassismen, auch in den eigenen Formulierungen und Gedanken.

Ein Buch zum Blättern und Betrachten, einzelne Begriffe wie Migrationshintergrund oder Einwanderungsgesellschaft näher zu beleuchten, ein Buch, das sich sehr gut eignet, um mit Schulkindern über ihre Erfahrungen ins Gespräch zu kommen und gemeinsam dazu zu lernen.

Ulla Stauber, Dozentin

 

Buch des Monats Oktober
Saša Stanišić: Wolf

Der Sommer liegt noch nicht lange zurück, damit auch die Ferienzeit und für manche vielleicht auch die Zeit der Feriencamps. Ganz unterschiedliche Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühle können damit verbunden sein – als Kind zum Beispiel die Freude, draußen zu sein und mit anderen was zu unternehmen, als Betreuende vielleicht die Freude, „etwas Cooles mit Kindern zu machen“, sich in der neuen Pädagogik-Rolle zu erproben.

Es kann aber auch ganz anders sein. Es kann so gar nicht der Wunsch der Betreuten sein, irgendwo in der Natur in Blockhütten zu nächtigen, mit anderen Gemeinschaften zu bilden und aus vorgegebenen Programmpunkten wählen zu müssen. Und es kann auch sein, dass den Betreuenden anderes wichtiger ist als die Kids, die eigene Peergroup zum Beispiel, in die man sich absetzen kann oder das Abtauchen in eigene Interessen.

So verhält es sich hier in „Wolf“. Kemi, der Ich-Erzähler, hat es so gar nicht mit der Natur, Ferienlagerromantik kommt bei ihm nicht auf. Er denkt an Stechmücken, Zecken, miefige Schlafräume, eklige Duschen und an Mitschüler:innen, die ihn schon in der Schule nerven. Aber er muss hin, da seine Mutter keine andere Betreuungsmöglichkeit für ihn in dieser Ferienwoche hat. Von Anfang an macht er kein Geheimnis daraus, dass ihm das alles zuwider ist und so landet er nach seinem Geschimpfe beim Einteilen der Zimmer bei Jörg. Und Jörg hat es nun noch mal in ganz anderer Weise schwer. Jörg ist einer, der alleine bleibt in Gruppen, einer, über den die anderen sich lustig machen, sich fiese Sachen ausdenken. Kemi beschreibt das so: „Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du? Man kann jemanden nämlich absichtlich verandern. Sorry, mir fallen nur erfundene Wörter ein.“

Richtig gut macht Saša Stanišić, wie er uns Lesende Kemi mit seinen Eigenheiten vorstellt und uns in seine Perspektive hineinfinden lässt. In sein Unwohlsein und Hadern mit dem Feriencamp. In seine Rolle am Rande der Gruppe. Und vor allem in seine Geschichte mit Jörg. Wie geht er mit den fiesen Attacken um, die einige der Mächtigen in der Gruppe gegen Jörg führen? Wie entwickelt sich seine Beziehung zu Jörg, schließlich teilen sie sich ja ein Zimmer? Kemi ist ein kluger Typ, ein genauer Beobachter, einer mit Sinn für Komik. Es ist oft zum Schmunzeln, wie gut er Situationen einfängt und beurteilt. Und er ist einer, der die Dinge, die ihn beschäftigen, mit in die Träume nimmt, das sind die Wolf-Teile des Buches, die von der Illustratorin Regina Kehn in ganz ausdrucksstarke Bilder gebracht wurden.

Ein kluges, die sozialen Prozesse vielschichtig darlegendes Buch. Eines ,das einlädt, über die hier vorgestellten Figuren und unsere eigenen Anteile und Verhaltensweisen ins Nachdenken und ins Gespräch zu kommen. „Wolf“ steht auf der diesjährigen Nominierungsliste zum deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie „Kinderbuch“.

Ulla Stauber, Dozentin

Buch des Monats Juli
Anja Reumschüssel: Über den Dächern von Jerusalem

Auf verschlungenen Wegen nimmt Anja Reumschüssel die Lesenden mit hinauf auf die Dächer und in den Blick über die Stadt Jerusalem. Dort oben treffen im Jahr 1947 zum ersten Mal Tessa und Mohammed aufeinander.

Die fünfzehnjährige Tessa hat das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebt, sie reist nach Palästina, um ihren Vater wiederzufinden. Mohammed, ein palästinensischer Jugendlicher, hat seinen Vater verloren, er wurde bei einem Attentat von jüdischen Kämpfern getötet. Nach und nach erfahren wir mehr vom Leben der beiden, ihrer bewegten Vergangenheit und ihrem aktuellen Leben in einer Zeit großer Veränderungen, der Gründung des Staates Israels 1948, der Unruhen, Ungerechtigkeiten und der Bedrohungen, die beide in ihren Leben aushalten müssen.

Dann springt die Autorin mit uns in die Gegenwart, in eine Zeit vor den Attentaten der Hamas im Oktober 2023 und den darauffolgenden Krieg, den Israel gegen die Palästinenser führt. Nun begegnen sich Anat, die gerade ihren Wehrdienst in der israelischen Armee leistet, und der junge Palästinenser Karim, der in der Perspektivlosigkeit seiner Lebensumstände nur Gelegenheitsjobs machen kann. Und auch die beiden beginnen über alle Gräben hinweg miteinander zu sprechen.

„Vier unterschiedliche Perspektiven auf Israel, vier verschiedene und doch untrennbar miteinander verwobene Schicksale.“ So beschreibt es der Klappentext zum Buch. Es mag etwas konstruiert anmuten, wie die Personen in Verbindung stehen. Doch Anja Reumschüssel gelingt es mit dieser Erzählweise, den komplizierten Nahost-Konflikt auf zwei Zeitebenen, den Jahren 1946-1948 und der Gegenwart vor dem 7.Oktober 2023, aus den verschiedenen Lebensgeschichten heraus anschaulich zu machen. Sie lässt jede Person aus ihrem Blickwinkel erzählen und ein Gegenüber, Gehör und auch Widerspruch finden. Und dies ausgerechnet in Personen, die das Problem verkörpern, die Gegner sind. Im Nachwort schreibt die Autorin: „Wenn ein Roman den Nahostkonflikt lösen könnte, gäbe es den Konflikt schon längst nicht mehr.“ Wie schön wäre das.

„Über den Dächern von Jerusalem“ ist im Carlsen Verlag erschienen und für den deutschen Jugendbuchpreis 2024 nominiert. Die Jugendjury schätzt es, dass es der Autorin gelingt, unparteiisch den komplexen Konflikt darzulegen, und empfiehlt das Buch allen, die Geschichte und Gegenwart des Nahostkonflikts besser verstehen möchten zur Lektüre.

Ulla Stauber, Dozentin für Kinder- und Jugendliteratur

Buch des Monats Juni
Wie man eine Raumkapsel verlässt

Meine Empfehlung für den Juni:
Alison McGhee: Wie man eine Raumkapsel verlässt, dtv, Reihe Hanser, 2021

Es will einfach nicht aufhören zu regnen in diesem Frühsommer in Süddeutschland … was da gut geht und guttut: Eintauchen in eine Geschichte! Ich hätte da eine wunderschöne … eine, die ehrlich feststellt - wie die Autorin im Anhang des Buches: Das Leben ist schön, und es ist schwer.

Es ist die Geschichte von Will, 16 Jahre alt, einer, der im Gehen die Dinge bearbeitet, die ihn beschäftigen. Und davon gibt es viel. Er lebt mit seiner Mutter zusammen und vermisst seinen Vater, der starb, als er dreizehn war. Er braucht Geld fürs College und beginnt einen Job in einem kleinen Krimskramsladen, dem „Dollar Only“, er intensiviert wieder den Kontakt zu seiner Freundin Playa, indem er ihr kleine Aufmerksamkeiten zukommen lässt, nachdem diese eine schwere, traumatisierende Erfahrung gemacht hat …

„Manchmal muss man den Tag rauslaufen. Weißt du, was ich meine? Ihn sich durch die Fußsohlen rauslaufen …“ Oder an einer anderen Stelle: „Wenn du ein Geher bist, ein echter Geher, dann finden deine Füße von selbst den Weg … lass deine Füße den Weg finden. Du merkst es, wenn das geschieht. Dann lass den Tag aus dir heraussickern. Lass alles, was dir in den Kopf kommt, frei darin herumschweben.“

Er ist ein sensibler, ein humorvoller und hilfsbereiter Kerl, einer, den man gern zum Freund hätte … An dem Morgen, als er seinen Vater das letzte Mal sah, das war am Frühstückstisch, da bietet ihm dieser sein selbstgebackenes Maisbrot an. Aber Will hat keine Lust drauf. Nee, sagt Will nur. Und dieses „nee“, das lässt ihn nun nicht mehr los und das Maisbrot auch nicht. Er versucht es in der Weise zu backen, wie es sein Vater gemacht hat. Das will nicht so recht gelingen und nachdem ich mir als Leserin schon ausgemalt habe, wie ungemein knusprig und lecker dieses Brot wohl sein musste, löst Wills Freundin Playa das ganz nebenbei mal auf. Dein Vater war ein toller Typ, sagt sie, aber sein Maisbrot war völlig misslungen. Und es wird deutlich: das falsche Wort zur falschen Zeit, das gibt diesem eigentlich ungenießbaren Brot diese Aura, es wird für Will zum Sehnsuchtsbild nach einem guten letzten Wortwechsel zwischen ihm und seinem Vater.

Will arbeitet, wie schon erwähnt, neben der Schule im „Dollar Only“, davon erfahren wir in kurzen Sequenzen (überhaupt: länger als eine halbe Seite ist kein Abschnitt des Buches). Der Typ, der den Laden führt, ist ein ganz einsamer Kerl, der alleine vor sich hin lebt. Zwischen ihm und Will entsteht mit der Zeit eine freundschaftliche Beziehung, was an Wills besonderen Fähigkeiten liegt, nachdenklich zu sein und einfühlsam mit seinen Mitmenschen. Tom heißt der Ladenbesitzer, Tom Montalvo, aber für Will ist er „Major Tom“. „Major Tom“, das ist eine wichtige Figur bei David Bowie (zum Beispiel im Song „Space Oddity“ - falls Sie den nicht kennen, gleich noch ne Musikempfehlung dazu!). Bowies „Major Tom“ ist ein Astronaut, der mit seiner Raumkapsel in Turbulenzen gerät, und irgendwo in der Unendlichkeit strandet. Genau: So viel zum Titel des Buches!

Und die Konversation zwischen den beiden verläuft dann zum Beispiel so: „Musik ist die Zuflucht der Einsamen, sagte mein Dad immer. Das, und auch: Carry on, my wayward son. Und: Don´t let the bastards get you down. Das war bei Weitem noch längst nicht alles. Aber über die drei Sätze denke ich am meisten nach. Musik ist die Zuflucht der Einsamen, aber ich weiß, wie mein Dad das meinte. So wie Major Tom. „Ground control to Major Tom", sage ich über die Lautsprecheranlage, wenn ich Mr. Montalvo an der Kasse brauche. „Commencing countdown! Engines on!“, antwortet er dann meistens. Ebenfalls über den Lautsprecher. Gleich darauf kommt er nach vorn.“

Herzerwärmend ist er, dieser Will. Einer, der trauert und durch die Hinwendung zu den Menschen um ihn herum die Sonne aufgehen lässt. Für andere und auch für sich.

Ulla Stauber, Dozentin für Kinder- und Jugendliteratur

Buch des Monats Mai

Bestimmer sein: Wie Elvis die Demokratie erfand

Katja Reider (Text) und Cornelia Haas (Illustration)

„Wer ist hier der Bestimmer?“ „Heute will ich aber mal Bestimmer sein!“ – das haben Sie sicher alle schon mal gehört, wenn Kinder miteinander spielen. Und sich vielleicht auch immer wieder mal gefragt, wer sich wohl heute durchsetzen kann. Bestimmer sein – eine Formulierung also, die Kinder vertraut sein dürfte. Und das ist auch der Titel meiner Empfehlung für das Buch des Monats Mai: Wie Elvis die Demokratie erfand, heißt es weiter.

Im Buch treffen sich Tiere, die in der Savanne leben, es gibt Elefanten, Löwen, Zebras, Büffel, Kojoten und neben all den großen Tieren diesen Winzling, das Erdmännchen Elvis. Und wie so oft im Kinderbuch und Märchen: klein, aber oho! Elvis hat genug vom ewigen Streit. Katja Reider stellt uns das in Reimform vor: „Zank, Stunk und Streit rund um die Uhr, von früh bis spät Gemecker nur … Wer rückt dem anderen auf die Pelle? Wer darf wann an die Wasserstelle?“ Tja, Fragen über Fragen: “Wer bringt hier endlich Ruhe rein? Wer soll im Land der Bestimmer sein?“

Die Löwen finden sich selbst zwar würdevoll und stark, die Zebras aber wenden einen ziemlich hohen Fleischkonsum bei den Löwen ein. Die Elefanten setzen auf schiere Größe und die Kojoten nehmen für sich in Anspruch, systemrelevant zu sein: „Sind wir nur eure Dienst-Idioten? Wir kümmern uns um Aas und Dreck und räumen den Mist der anderen weg! Doch legen wir die Arbeit nieder, erkennt ihr euer Land nicht wieder!“ Es menschelt also ganz schön im Gerangel um den Bestimmer und Elvis schlägt vor: “Sagt, wäre es nicht viel gescheiter, Vertreter streiten für uns weiter? Wir wählen eine Gruppe, die uns alle vertritt, die berät und beschließt – aber Schritt für Schritt … Ob Zebra, ob Affe, ob Maus, ob Kojote, hebt bei Interesse mal bitte die Pfote!“

Und dann wird gewählt: „Die Wahl war geheim und alle gingen hin. Jede Stimme galt gleich, so machte es Sinn.“ Und Elvis verkündet: „Wir haben gewählt! ... Ein Parlament aus sämtlichen Tieren … euer Ziel: unser Glück. Wir wünschen euch Weisheit, Vernunft und Geschick!“ Und da das in der Tierwelt von Katja Reider so wunderbar funktionierte, es wird debattiert und dann mit Geduld entschieden, fiel Erdmännchen Elvis ein: „Das könnte auch was für die Zweibeiner sein!“

Cornelia Haas hat das Buch farbenfroh und ausdrucksstark illustriert, eine Einladung zum gemeinsamen Betrachten und Details-ausfindig-Machen. Und eine Einladung, Kindern in gereimter Sprache vorzulesen und mit ihnen über Demokratie ins Gespräch zu kommen.

Ulla Stauber, Dozentin für Kinder- und Jugendliteratur

Buch des Monats April

Wenn du NEIN sagst, stirbt ein Kaninchen!
Rike Drust (Text) und Lilli L´Arronge (Illustration)

Im Klett Kinderbuch-Verlag bereits 2021 erschienen, mir aber erst jetzt über den Weg gelaufen: ein fantastisch-herzerfrischendes kleines Buch, in dem Kinder mal so richtig den Spieß umdrehen. Wer kennt sie nicht, die Eltern (leider auch Erzieher:innen)-Sprüche in der Art wie: „Wie heißt das Zauberwort?“ oder „Das ist nicht so schlimm“ oder so ein Klassiker beim Essen „Was auf den Tisch kommt, wird auch gegessen“ oder die etwas lahmere, aber nicht weniger übergriffige Variante „Von allem wird wenigstens mal probiert.“  Adultistische Sprüche, die Kinder gängeln, unterdrücken und bevormunden.

Rike Drust ruft ihre herbeifantasierten Kinder heran, hier noch ordentlich eins draufzusetzen. Jetzt wird auch mal gedroht und kommentiert - und zwar reich an Ideen! Ein beliebtes Muster, das uns in Witzen zum Lachen bringt, pädagogisch können wir es auch „reframing“ nennen, von englisch „frame“ – Rahmen. Hier wird die gewohnte Rahmung karikiert und das ist sehr lustig - aber eben nicht nur. „Wenn du mir mit Spucke im Gesicht rumwischst, bleibt dein Finger für immer nass!“ Es sind die oft so lapidar ausgesprochenen Sachen, die unüberlegten Handlungen, die hier humorvoll verdreht werden und uns Erwachsenen den Spiegel vorhalten. Und uns vielleicht bestenfalls auch sagen lassen: ja, genau so war das mit der Spucke auch bei mir früher, richtig eklig eigentlich.

Die Illustratorin Lilli L´Arronge hat in ihrem Atelier in Münster passende Szenen gezeichnet, jede der dargestellten Personen ist ein ausdruckstarker Charakter, Vielfalt findet in ihren Zeichnungen einen selbstverständlichen Ausdruck. Und Rike Drust ist für ihre pointierten Texte bekannt, sie schreibt neben Kinderbüchern auch als Werbetexterin. In ihrem zuletzt erschienenen Kinderbuch „Alle helfen“ widmet sie sich einem sehr sensiblen Thema, dem Umgang mit den großen Bedrohungen Klimakatastrophe und Krieg und stellt Berufe vor, die sich um unser gesellschaftliches Leben und Miteinander kümmern.

Aber jetzt noch einmal zurück zu „Wenn du nein sagst, stirbt ein Kaninchen“. Wenn Sie sich mit Kindern durch dieses Buch geblättert haben, dann werden Sie zum Schluss belohnt. Achtung, Spoiler! „Wenn wir das Buch gleich noch mal lesen, dann seid ihr die besten Eltern der Welt“, ruft das Kind seinen Eltern zu. Und stellt sie anerkennend ins Scheinwerferlicht auf die Bühne. Und die besten Erzieher:innen, möchte ich da noch ergänzen. Also kein Aprilscherz, sondern ganz im Ernst: sehr amüsant, sehr aktuell, großer Lese- und Vorlesespaß!

Ulla Stauber, Dozentin für Kinder- und Jugendliteratur

 

 

Buch des Monats März

Kirsten Boie: Aufruf zum Größenwahn
Warum Frauen den Mut haben sollten, alles zu wollen

Kirsten Boie vorzustellen, das ist unter angehenden pädagogischen Fachkräften ja vielleicht bisschen „Eulen nach Athen tragen“, also müßig, überflüssig. Kirsten Boie gehört zu den bedeutendsten, bekanntesten und erfolgreichsten zeitgenössischen Kinder- und Jugendbuchautor:innen. Ein paar ihrer Figuren nenne ich mal und hoffe auf vielfaches „ahh – ja klar“: die Kinder aus dem Möwenweg, Linea, King Kong, das Geheimschwein, der kleine Ritter Trenk, Prinzessin Rosenblüte, Seeräuber Moses … aber auch Jugendbücher wie „Alhambra“, „Dunkelnacht“ (ausgezeichnet mit dem deutschen Jugendliteraturpreis 2022), „Ein mittelschönes Leben“…

Nun ist im Arche-Verlag ein schmales Bändchen – es umfasst nur 42 Seiten – mit dem Titel „Aufruf zum Größenwahn – warum Frauen den Mut haben sollten, alles zu wollen“ erschienen. Also eine Empfehlung auch an alle, die etwas schnell Lesbares einem dicken Schmöker vorziehen. Es ist die von Kirsten Boie überarbeitete und in Buchform gebrachte Rede, die sie zum internationalen Frauentag am 8. März im Jahr 2020 im Hamburger Rathaus gehalten hat.

Warum empfehle ich nun unter all den fantastischen Büchern von Kirsten Boie gerade dieses? Nun, zum einen – siehe oben: Ich denke, Sie sind mit einigen der Titel von ihr vertraut, vielleicht auch mit Kinderbüchern von ihr großgeworden (ansonsten: da lässt sich noch was nachholen!). Zum andern, weil sie in diesem Buch so persönlich wird, so viel aus ihrem Werdegang erzählt, auch von den Hürden, die sie als Frau, 1950 in Hamburg geboren, auf ihrem Weg beruflich und privat überwinden musste. Ursprünglich wollte Kirsten Boie nämlich Chemikerin werden, die Berufsberaterin des Arbeitsamtes machte daraus flugs „chemisch-technische Laborantin“, ein Studium der Chemie war für Frauen bis in die 1970er-Jahre hinein nicht auf der Vorschlagsliste. So wurde Kirsten Boie schließlich Lehrerin, aber auch da gab es einiges an Vorbehalten und Einschränkungen zu verkraften, vor allem als sich Boie und ihr Mann zur Adoption von zwei Kindern entschlossen.

Für uns Leser:innen ein Glücksfall, da sie so mit dem Schreiben begann (und 1985 mit „Paule ist ein Glücksgriff“ gleich großen Erfolg hatte) – ein Glücksfall für alle kindlichen und jugendlichen Leser:innen! Und für alle Erwachsenen, die sich gerne mit Kinder- und Jugendliteratur befassen und vorlesen. Kirsten Boie ist ungemein humorvoll und empathisch, sie ist sozialkritisch und sie arbeitet in ihren Büchern Themen der deutschen Geschichte und Gegenwart auf. Eine gesellschaftspolitisch wichtige Stimme also, ein Sprachrohr für viele, die erst mal im Sprechen ankommen müssen oder denen erst mal zugehört werden sollte. So zum Beispiel in „Bestimmt wird alles gut“, der Geschichte einer Flucht aus Holms in Syrien nach Deutschland oder in „Ein mittelschönes Leben“, eine Geschichte über den Weg in die Obdachlosigkeit in unserem Land.

Zu wünschen ist ihr und uns, dass sie sich weiterhin gesellschaftspolitisch einmischt, auch in die Förderung des Lesens, wo sie mit ihrem Aufruf „Jedes Kind muss lesen lernen“ (2018) und der Unterstützung des Konzepts von Lesepat:innen prominente Unterstützung gibt. In „Seeräuber-Moses“ wird das Findelkind, das lange Zeit keinem biologischen Geschlecht zugeordnet wird und sich so frei von biologistischen Zuschreibungen entwickeln kann, an einer Stelle sagen: „Wenn ich das will, dann kann ich das auch.“ Das ist so ein typischer Boie-Satz, der für ihr Leben gilt und den wir uns immer wieder vergegenwärtigen sollten. Natürlich nicht nur am Internationalen Frauentag – dennoch für mich eine passende Gelegenheit, das Buch des Monats März 2024 „Aufruf zum Größenwahn“ hier zu empfehlen.

Ulla Stauber, Dozentin u. a. für Kinder- und Jugendliteratur

Buch des Monats Februar

Wann ist endlich Frieden?

Antworten auf Kinderfragen zu Krieg, Gewalt, Flucht und Versöhnung von Elisabeth Raffauf und Günther Jakobs  

Hinter einer kriegerischen Szene, Panzer, Soldaten, Menschen auf der Flucht sind da von Günther Jakobs gemalt, geht nicht die Sonne auf, sondern ein Kindergesicht schaut besorgt hervor. Das ist, kurzgefasst, das Titelbild des 2023 im Fischer Kinder-und Jugendbuch Verlag erschienenen Buches, welches sich an alle richtet, die sich mit diesen Kinderfragen beschäftigen und die gemeinsam mit Kindern Antworten suchen.

Elisabeth Raffauf ist eine erfahrene Psychologin, die unter anderem Sachbücher und regelmäßig für die Wochenzeitung „Die Zeit“ und die „Süddeutschen Zeitung“ schreibt und die Kindernachrichtensendung „logo“ im ZDF fachlich begleitet. Und diese fachliche Breite merke ich dem Buch an: In einer klaren, ruhigen Sprache stellt Elisabeth Raffauf hier Aussagen vor, die sie auch tatsächlich bei „Expert:innen zum Thema“, nämlich bei von Krieg, Vertreibung und Flucht erfahrenen Kindern gesammelt hat. Die Fragen, die sie entwickelt, sind klug gestellt und bilden das Thema breit ab, die Antworten, die die Autorin findet, sind einfühlsam formuliert und enthalten viele Informationen, die durch ein Stichwortverzeichnis noch ergänzt werden.

Was ist Frieden? Was ist Krieg? So eröffnet das Buch, um sich dann dem Thema „Krieg“ intensiver zuzuwenden: Was passiert, wenn ein Krieg anfängt? Wie war es, als der Krieg bei euch ausgebrochen ist? Warum gibt es Krieg? Wie lange dauert ein Krieg? In jede neue Fragestellung sind die Kinder mit ihren direkten Erfahrungen einbezogen, der Illustrator Günther Jakobs gibt ihnen mit seiner Gestaltung ein Gesicht. Und auch uns, wenn er Szenen und Fragen ergreifend illustriert, die viele umtreiben: Wie können wir helfen? Was können wir alle für den Frieden in unserer Nähe tun?

Das Buch ist eine Einladung und eine sehr konkrete Unterstützung, um mit Kindern über Krieg und Frieden ins Gespräch zu kommen. Und um weitere Fragen zu entwickeln. Etwa die leider sehr aktuelle Frage danach, wie wir die Demokratie schützen und geflüchteten Menschen Sicherheit hier in Deutschland bieten können. 

Ulla Stauber, Dozentin u. a. für Kinder- und Jugendliteratur

Buch des Monats Januar
„Der Ursprung der Welt“ von Liv Strömquist

Über Vulvalippen und andere schöne weibliche Körperteile - denn hier gibt’s nichts zu schämen!

Bereits 2017 erschien im renommierten Comic-Verlag avant die graphic novel „Der Ursprung der Welt“ von Liv Strömquist. Hat zugegebenermaßen etwas gedauert, bis ich es entdeckt habe, doch es fügt sich ganz wunderbar in die nun anbrechende Zeit der endlich korrekten Biologiebücher in Deutschland. Das wiederum ist Sina Krüger zu verdanken. Die Berliner Sport- und Biologielehrerin hat ihre Abschlussarbeit 2020 über die „Darstellung des weiblichen Genitalbereichs in Biologieschulbüchern - ein Beitrag zur emanzipatorischen Sexualpädagogik“ geschrieben. Und damit etwas Sensationelles erreicht: Die großen Schulbuchverlage Cornelsen, Klett und Westermann haben inzwischen neun Biologiebücher überarbeitet und mit anatomisch richtigen Abbildungen und sprachsensiblen Texten versehen.

Bisher war beispielsweise von der Klitoris, dem zentralen weiblichen Organ in der Mitte der Vagina gelegen, immer nur als „Halbmond“ oder „Perle“ zu lesen, dabei ist der nach außen sichtbare Teil nur ein kleines Stück eines im Innern deutlich größeren Organkomplexes, der eine wichtige Funktion hat: sexuelle Erregung und Lust. Dass diese den Herren der Schöpfung quer durch unterschiedliche Epochen und geisteswissenschaftliche Lager ein Dorn im Auge war, stellt Liv Strömquist so detailreich wie humorvoll dar - dabei könnte Frau ins Kissen heulen über all der übergriffigen Handlungen und Zuschreibungen.

Da wäre zum Beispiel ein gewisser John Harvey Kellogg (1852- 1943). Und ja, Sie liegen richtig, wenn Sie an Frühstücksflocken denken. Nun hat Herr Kellogg aber nicht nur Cornflakes erfunden, er war auch Arzt und seine Passion waren Gesundheitsbücher, in denen er weibliche Onanie zur Ursache für Gebärmutterkrebs, Epilepsie und allgemeine mentale und physische Labilität erklärte. Und mit einem probaten Mittel war er gleich zu Hand: ein paar Tropfen Karbolsäure auf die Klitoris geträufelt und schon ist es vorbei mit den lustvollen Empfindungen. Dann wären da noch der Arzt Dr. Isaac Baker-Brown (1811-1873), der gleich zur Schere griff und die sichtbare Perle einfach herausschnitt. Oder Augustinus, der im 4. Jahrhundert nach Christus die Idee entwickelte, dass Sex und Lust, vor allem weibliche Lust, ein Verrat an Gott wäre, dass sexuelle Lust immer mit Schuld und Scham zu verbinden sei und dies den Grundstein für das Zölibat, also verordnete sexuelle Enthaltsamkeit legte, mit all den schrecklichen Auswirkungen, mit denen die christlichen Kirchen bis heute straucheln.

Ein weiteres großes Kapitel widmet Liv Strömquist der Menstruation und stellt auch hier geistreiche, witzige und kluge Fragen: Warum müssen wir die Periode „frisch und sicher“ in weißer Jeans meistern? Warum muss ein Tampon diskret in der Hand verborgen heimlich zur öffentlichen Toilette transportiert werden? Mal ehrlich: was daran ist peinlich? Und die Frage sei erlaubt: Hätten Jungs Periode im gleichen gesellschaftlichen Kontext, wie würden die es machen? Meine Idee: Ich glaube, sie trügen ihre Tampons chic aufgereiht an einer Kette gut sichtbar um den Hals. ;-)

Also: es gibt noch viel zu tun! Solche wundervollen Comics machen Spaß, sich auf Spurensuche durch die Geschichte der Menschheit zu begeben, die Geschichte der Religionen, Psychoanalyse, Medizin, näher anzuschauen und Dinge, vor allem auch Sprache zu hinterfragen. Zum Beispiel im Kapitel „Eva erzählt“, da kommen die vielfältigsten Fragen zur weiblichen Anatomie auf. Liv Strömquist lässt Eva ulkige, ernsthafte und humorvolle Beobachtungen und Überlegungen anstellen. Und eine geschlechtersensible Sprache verwenden. Reden wir also nicht länger von Schamlippen, sprechen wir lieber von Vulvalippen und legen nicht fest, wie große und kleine Vulvalippen auszusehen haben, sondern belassen es dabei, dass es äußere und innere Vulvalippen gibt.

Freuen wir uns: Jippie!!! Im Jahre 2021 nach Christus ist es nun doch tatsächlich schon gelungen, korrekte Darstellungen der weiblichen Genitalien in Schulbüchern zu bekommen! Danke Sina Krüger (die übrigens den Stuttgarter Klett Verlag für die nun besonders gelungene sprachliche und bildliche Darstellung lobt) und Dank an die großartige feministische Comiczeichnerin Liv Strömquist, die mit dem „Ursprung der Welt“ auch eine große Aufklärerin und Kulturvermittlerin ist.

Und eins noch, falls Sie sich fragen, was es mit dem Titel auf sich hat. Es gibt ein gleichnamiges Bild des Malers Gustave Courbet von 1866. Ein Krimi ist die Geschichte des über viele Jahre nur verdeckt gezeigten, zwischenzeitlich auch verschollenen Bildes, das nun im Museum d´Orsay in Paris zu sehen ist.

Ulla Stauber, Dozentin u. a. für Kinder- und Jugendliteratur

Buch des Monats Dezember
Hunde im Futur

Echt jetzt? Ein Buch über deutsche Grammatik? Ist das nicht zäh? Ist das nicht der Haferschleim unter allen möglichen Frühstücksvarianten? Vielleicht ging es Ihnen ja in der Schule auch so (Verzeihung liebe Deutschlehrer*innen!): Grammatik - und ja, vielleicht wirklich gerade die Grammatik des Deutschen - ist sooo schwierig! (Welcher Fall ist das gleich? Ah, Genitiv: Wessen Grammatik ist das? Die Grammatik des Deutschen.)

Und dann die vielen Ausnahmen von der Regel. Dazu kommt: in der Grundschule oft mit anderen Begrifflichkeiten eingeführt, als später dann fortgesetzt. Plötzlich heißt das „Wie-Wort“ oder „Eigenschaftswort“ (Brücke: Wie ist das Brot? Knusprig!) „Adjektiv“… ach je, war das vielleicht schwer zu kapieren.

Grammatik kann auch anders. Das Geschwisterpaar Susanne und Johannes Rieder haben mit der Illustratorin Arinda Craciun eine Grammatik in Bildern geschaffen, die ihresgleichen sucht. Jede Seite ein kleines Wunderwerk, die Faltmethode einfach und genial zugleich.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem Text. Stellen Sie sich die Zeichnung eines Familienfestes vor, eine Hochzeit wird gefeiert, das Brautpaar sitzt in der Bildmitte, Gäste auf Stühlen und stehend drumherum, ein Hund läuft durchs Bild, Musizierende sind zu sehen und Menschen, die Blumen bringen.

Dazu folgender Text:

Sie merken schon: hier wird alles erklärt. Ein Beispielsatz dazu: „Das Demonstrativpronomen = hinweisendes Fürwort hebt eine Person oder eine Sache besonders hervor. Demonstrare lateinisch: zeigen.“

Die Abbildungen und die Erklärtexte, die sprachlichen Bilder und Geschichten, die hier Grammatik erklären, sind so ansprechend gewählt, dass die Betrachtenden fast schon nebenher Grammatik lernen.

Und die Geschwister Rieder sind auch – und das ist in der deutschen Grammatik gar nicht so leicht und mit all den Germanist*innen, die immer gleich schreien, „Gender-Sternchen machen die Texte kaputt!“ auch wichtig, beispielhaft hier mal zu wiederlegen: Grammatik wiegt nicht mehr als Inhalt. Und da lassen sich mit klugem genderbewussten Kopf auch schöne Lösungen finden! So erklären die Rieders den „Genus“, also das grammatikalische Geschlecht eines Substantivs (Neutrum= sächlich, Femininum=weiblich, Maskulinum= männlich) zum Beispiel so:

„Wenn von mehreren Personen gleichzeitig gesprochen wird, hat man lange Zeit immer nur die Maskulinform verwendet: „Liebe Schüler!“ Das ändert sich gerade, weil viele Leute empfinden, dass bei dieser Form etwas fehlt. Deshalb werden verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, die auch die Femininform mit einbeziehen: Man kann zum Beispiel einen Doppelpunkt einfügen (Schüler:innen) oder ein Wort finden, in dem beide Geschlechter enthalten sind. („Liebe Studierende!“ statt „Liebe Studenten!“).

Gerade für die pädagogische Arbeit ist es wichtig, Vielfalt auch sprachlich abzubilden und nicht nur „mitgemeint“ zu sein. Das bedarf ein wenig Übung, Fingerspitzengefühl und Eloquenz – auch dazu leistet dieses wunderbare Buch einen Beitrag.

Ulla Stauber, Dozentin u. a. für Kinder- und Jugendliteratur

Buch des Monats November
Die vergessenen Kinder von Lesbos

„Manchmal male ich ein Haus für uns - Europas vergessene Kinder“ heißt das Fotobuch, das ich Ihnen im November als mein „Buch des Monats“ vorstellen möchte. Die Fotografin Alea Horst hat im Jahr 2021 Interviews mit Kindern geführt, die in den Flüchtlingslagern in Griechenland leben. Die Kinder erzählen von Flucht, Vertreibung und dem Leben im Flüchtlingslager, aber auch von glücklichen Tagen, von Wünschen und Hoffnungen.

Das ist sehr berührend in der Direktheit von Text und Fotografie. „Ich lebe im Containerlager Kara Tepe, weil ich ein Flüchtling bin“, erzählt Neda, 13 Jahre aus Afghanistan. „Ein Flüchtling ist jemand, der sein Land verlassen musste und in ein anderes Land geht und dort versuchen muss, ein neues Leben anzufangen und ein Teil von dort zu werden. Ich bin ein Flüchtling, weil es in unserem Land nicht sicher ist. Wir konnten dort einfach nicht leben.“

Die Kinder, die hier zu Wort kommen, geben uns auch Einblicke in das Leben im alten Lager von Moria, das abbrannte. Wir erfahren vom Leben danach auf der Straße, im Zelt- und Containerlager. Sie berichten von gleichförmigen, manchmal auch beängstigenden Tagen unter einfachsten Lebensbedingungen und von ihrer Sehnsucht nach dem, was für uns Normalität ist: ein Dach über dem Kopf, Schulbildung, Hygiene, Nahrung und die Möglichkeit, ein soziales und kulturelles Leben zu gestalten.

Arash, 13 Jahre, ebenfalls aus Afghanistan geflohen, sagt: „Ich wünsche mir, dass meine Mama einfach nicht mehr traurig ist.“ Und an anderer Stelle: „Wenn alle Kinder in der Welt freundlich zueinander sind, im Team arbeiten, wenn sich alle bemühen, ein gutes Leben zu führen, dann haben wir vielleicht irgendwann keine Kriege mehr oder auch keine Camps.“

In Zeiten, in denen Politiker:innen sich darin zu überbieten scheinen, Härte gegen Flüchtlinge zu zeigen und Schurkenstaaten zu sicheren Herkunftsländern umzudeklarieren, ist dieses Buch von  unschätzbarem Wert: es erinnert uns daran, die Menschen mit ihren einzelnen Lebensgeschichten zu sehen und ihnen Respekt und Würde zukommen zu lassen. Und sie trotz aller anderen Krisen nicht zu vergessen.

Das Buch ist im Klett-Verlag 2022 erschienen, es war dieses Jahr auf der Nominierungsliste „Sachbuch“ zum Jugendliteraturpreis.
Falls Sie noch Ideen für Geschenke zu Weihnachten suchen, das wäre meine Empfehlung. Ein Teil des Erlöses aus dem Buchverkauf geht an das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR.

Ulla Stauber, Dozentin für Kinder- und Jugendliteratur

Buch des Monats Oktober
Harte Schale, Weichtierkern

Die Schriftstellerin Cornelia Travnicek hat mit „Harte Schale, Weichtierkern“ ein wunderbares Coming-Of-Age-Buch geschrieben. Sie erzählt darin so feinfühlig wie witzig von der 16-jährigen Fabienne mit den unglückseligen Initialen F.C.K., die sie als Fabienne Caroline Klausner im frühen Schulalter ahnungslos auf ihre Hefte schrieb. Travnicek lässt Fabienne im Tagebuchstil und wunderschön illustriert (Michael Szyszka) erzählen, wie das so ist mit einem Leben im „Autismus-Spektrum“.

Wann fiel ihr auf, dass sie ein bisschen anders tickt, als viele andere Kinder?

„An den Abenden, an denen meine Eltern mit mir als Kind früher von den Gartenfesten nach Hause fahren mussten, während alle anderen sich freuten, länger wach bleiben zu dürfen, weil ich müde war, Bauchweh hatte und/oder fror. Und sobald ich im Auto saß, war alles gut. Die Ruhe, der begrenzte Raum.“ In Fabiennes Schilderungen entsteht kein „wie strange“, sondern vielmehr ein „ah, so fühlt sie sich, gar nicht so weit weg von dem, was ich irgendwie auch so oder so ähnlich kenne.“ Das eröffnet Raum für Nähe und Verständnis und auch Interesse, mit dieser „Seelenstudie“ umzugehen.

Wunderbar differenziert und einfühlsam sind all die zusammengewürfelten Szenen, Erinnerungen, Tagebucheinträge .... und in Teilen auch witzig. Und manchmal auch zum Schaudern, wenn da steht: „Du sollst nicht Asperger sagen. Das Asperger-Syndrom ist benannt nach dem österreichischen Kinderarzt „Hans“ Asperger (1906-1980). Die Nationalsozialisten hielten diesen Johann Friedrich Asperger für „in charakterlicher sowie politischer Hinsicht einwandfrei.“ Gegen andere Leute hatte Asperger jede Menge Einwände. Er nannte ein sechsjähriges Mädchen eine Hure, weil es missbraucht worden war und einen jüdischen Jungen, der Angst wegen Hitlers Machtübernahme hatte, paranoid. Seine eigenen schriftlichen Beurteilungen überwiesen kleine Kinder in die Anstalt „Am Spiegelgrund“, wo sie mit Phenobarbital vergiftet wurden.“

Cornelia Travnicek, Jahrgang 1987, lebt abwechselnd in Wien und einem niederösterreichischem Dorf. Mit „Harte Schale, Weichtierkern“ ist sie in der Kategorie „Jugendbuch“ für den deutschen Jugendbuchpreis 2023 nominiert.

Ulla Stauber, Dozentin für Kinder- und Jugendliteratur